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Zeit-Interview: Corona-Leugnung hat keinen Platz an Waldorfschulen
Waldorfschulen und Corona: „Corona-Leugnung hat keinen Platz an Waldorfschulen“
Sind Anthroposophen gleich Impfgegner? Der Waldorfpädagoge Jost Schieren bestreitet das. Einige Eltern und Lehrkräfte würden sich ihre eigene Ideologie zusammenstricken.
Waldorfschulen machen in der Corona-Krise Schlagzeilen, weil zum Beispiel Maskenverweigerer unter den Eltern Schulleitungen unter Druck setzen oder manche Lehrkräfte ihre Schüler und Schülerinnen dazu aufrufen, die Regeln zu missachten. Es entsteht der Eindruck, Impfgegner und Corona-Leugnerinnen würden dort die Mehrheit stellen. Der Bund der Waldorfschulen spricht allerdings von geschätzt 10 von insgesamt 254 Schulen, an denen zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegen Corona-Regeln verstoßen, Schulleitungen die Maßnahmen nicht mit aller Konsequenz durchgesetzt, Eltern dagegen protestiert haben. Es habe auch im Waldorfkontext corona-verharmlosende und -leugnende öffentliche Vorträge bis hin zu Äußerungen aus dem Verschwörungsumfeld gegeben. Jost Schieren ist Professor für Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule und sagt, das Problem sei eher soziologisch als ideologisch.
ZEIT ONLINE: Waldorfschulen und die Lehre der Anthroposophie werden derzeit oft als eine Ursache für die schlechte Impfquote genannt. Können Sie das nachvollziehen?
Jost Schieren: Es gibt in Deutschland etwa 250 Waldorfschulen und rund 90.000 Waldorfschüler. Es gehen also nur ein Prozent aller Schüler und Schülerinnen auf eine Waldorfschule. Das ist nun wirklich keine starke Fraktion. Selbst, wenn hier alle Eltern und Lehrer Impfgegner wären – was nicht der Fall ist – könnten sie nicht für die geringe Impfquote verantwortlich sein.
ZEIT ONLINE: Eine Studie der Universität Basel im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung hat jedoch gezeigt, dass vor allem im Südwesten Deutschlands die Querdenker stark im alternativen und anthroposophischen Milieu verankert sind. Was sagen Sie dazu?
Schieren: Die Studie von Nadine Frei und Oliver Nachtwey ist sehr interessant, da sie einen differenzierteren Einblick in die zum Teil recht heterogene Querdenkerszene gibt. Allerdings ist sie nach eigener Aussage nicht repräsentativ und macht auch keine quantitative Aussage über den Einfluss von Anthroposophen in diesem Milieu.
ZEIT ONLINE: Ist es also doch ein Vorurteil, wenn Waldorfschulen als Hort von Querdenkern und Corona-Leugnern gelten?
Schieren: In der Pauschalität ja. Es gibt das Phänomen allerdings bei manchen Eltern und auch einzelnen Lehrern und Lehrerinnen an Waldorfschulen. Aber das ist kein ideologisches Problem der Anthroposophie, sondern ein soziologisches, das viele freie Schulen trifft.
ZEIT ONLINE: Was meinen Sie damit?
Schieren: Eltern, die ihre Kinder auf freie Schulen schicken, sind in der Regel etwas nonkonformistischer, liberaler und weniger staatsorientiert. Viele verfolgen einen individuellen, alternativen Lebensstil. Das gilt auch für viele Lehrkräfte. Und nun hat der Staat, wie nie zuvor seit der Begründung der Bundesrepublik, in die persönliche Freiheit des Einzelnen eingegriffen. Aber nicht alle, die die Freiheitseinschränkungen angezweifelt haben, sind deshalb automatisch Corona-Leugner und denken antiwissenschaftlich. Als etwa die Maskenpflicht an Schulen aufkam, haben manche Eltern und Lehrer sich daran gerieben. Das ist vor dem Hintergrund der damaligen wissenschaftlichen Faktenlage auch nachvollziehbar und eine kritische Haltung ist ja nicht per se schlecht. Dennoch gibt es natürlich eine Grenze, nämlich dort, wo das eigene Handeln zu einer Gefährdung anderer wird. Und da erachte ich beispielsweise die Maskenpflicht für das geringere Übel.
ZEIT ONLINE: Wenn es kein ideologisches Problem ist, hieße das, Rudolf Steiner und die Anthroposophie würden gar nicht in esoterischen Kreisen verbreitete Glaubenssätze vertreten, wie die, dass Impfungen verhindern würden, dass der Körper seine natürlichen Kräfte mobilisiert oder, dass sie das Karma störten?
Schieren: Viele beziehen sich bei solchen Ideen hie und da auf Steiner. Einzelne stricken sich ihre Waldorf- und Anthroposophieauslegung selbst zusammen. Das ist deshalb möglich, weil es bei Steiner oft keine systematisch-eindeutigen Aussagen gibt. Ich begrüße es aber, dass diese Lesart von offiziellen Stellen nicht geteilt wird. Die anthroposophische Medizin unterstützt keine Antiimpfhaltung. Auch Steiner selbst hat sich gegen Pocken impfen lassen und pragmatisch vertreten, dass er die Pockenimpfung bei Kindern für richtig hält.
ZEIT ONLINE: Was halten Sie von Anthroposophen wie Professor Christoph Hueck, offensichtlich ein Dozent für Waldorfpädagogik in Stuttgart. Er spricht auf Demonstrationen und in Vorträgen von der Kraft der eigenen natürlichen Abwehr: Wer ein gutes Immunsystem habe, dem könne das Virus nichts antun. Und er warnt vor mRNA-Impfstoffen.
Schieren: Ich kann mich mit dieser Sichtweise nicht identifizieren. Und auch der Bund der Freien Waldorfschulen hat sich kürzlich in der Zeitschrift Erziehungskunst offiziell von Herrn Hueck distanziert.
ZEIT ONLINE: Was sagt die offizielle anthroposophische Medizin zu Corona-Impfungen?
Kinder nehmen die Regeln gelassener als die Erwachsenen
Schieren: Es gibt eine Stellungnahme der Internationalen Vereinigung anthroposophischer Ärztegesellschaften (IVAA) und der Medizinischen Sektion am Goetheanum, also dem Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, vom 12. Januar 2021, in der es heißt: "Die IVAA und die Medizinische Sektion am Goetheanum begrüßen die Entwicklung verträglicher und wirksamer Impfungen gegen Sars-CoV-2 in der Hoffnung, dass sie eine zentrale Rolle in der Überwindung der Covid-19 Pandemie spielen werden." Auch der Bund der Freien Waldorfschulen hat klargestellt, dass Corona-Leugnung und die Verweigerung der Maßnahmen keinen Platz an Waldorfschulen haben.
ZEIT ONLINE: Trotz der Ansage sind einzelne Waldorfschulen mit Querdenkerideen aufgefallen. Die Bandbreite zwischen den einzelnen Schulen ist wahrscheinlich sehr groß.
Schieren: Ja, die Schulen sind selbstverwaltet. Und der Bund der Waldorfschulen hat keine Kontrollfunktion. Er kann sich allenfalls von Schulen distanzieren, beziehungsweise sie aus dem Verband ausschließen, beispielsweise wenn – wie es an zwei Schulen passiert ist – starke rechte Tendenzen auftreten. Aber die Kontrollfunktion liegt beim Staat, wie bei allen anderen Schulen auch. Meines Wissens hat das Schul- oder das Ordnungsamt noch keine Waldorfschule geschlossen, weil sie systematisch Corona-Regeln gebrochen hat. Ich denke eher, dass manche Schulen in eine schwierige Situation geraten, weil es einzelne Eltern und Lehrkräfte gibt, die die Maßnahmen ablehnen und andere, denen die Maßnahmen nicht streng genug sind.
ZEIT ONLINE: Wie diskutieren Sie die Situation mit Ihren Lehramtsstudierenden?
Schieren: Viele der Studierenden in unserem Master-Teilzeitstudiengang sind bereits Lehrerinnen und Lehrer, viele auch selbst Eltern. Sie erleben den Konflikt an den Schulen jeden Tag. Wir diskutieren ganz praktische Probleme: Wie verhält man sich bei Elternabenden, wenn etwa das Unterrichten mit Maske kritisiert wird? Ich versuche, ihnen nahezubringen, sich nicht aufzureiben, sondern weniger die Hindernisse zu betonen als die Möglichkeit, sich mit den Regeln zu arrangieren. Vieles wird überspitzt. Und die Angst der Erwachsenen überträgt sich dann auf die Kinder, die von sich aus sehr viel gelassener sind und es selbstverständlicher handhaben.
ZEIT ONLINE: Schulen haben eine Schlüsselposition, wenn es um die Aufklärung geht, auch in Sachen Pandemie. Inwiefern wird das bei Ihnen bei der Ausbildung für Lehrer und Lehrerinnen thematisiert?
Schieren: Im Rahmen der Lehrerausbildung sind wir auf die Pandemie insbesondere methodisch-didaktisch eingegangen. Die Waldorfpädagogik ist ja eine sehr am Menschen orientierte Pädagogik. Uns ging es darum, mit unseren Studierenden die Möglichkeiten und Chancen eines authentischen Onlineunterrichtes zu erarbeiten und zu erproben. Eine Lehrerin etwa hat die Kinder in Vierergruppen in Videokonferenzen unterrichtet und konnte dadurch einen engen Kontakt herstellen. Darüber hinaus wollen wir die Kinder darauf vorbereiten, in einem altruistischen Sinne für das Gemeinwohl handeln zu können. Hier stellt die Pandemie eine enorme Herausforderung. Für die Kinder war die Zeit des strengen Kontaktverbotes besonders schlimm. Dies müssen die Schulen täglich auffangen durch eine direkte menschliche Zuwendung und Begleitung. Es muss aber auch differenziert werden zwischen dem, was Pädagogik und Schule ist, und dem, was ins Elternhaus gehört. Schule als öffentliche Institution muss den politischen Maßgaben folgen. Daneben gibt es den privaten Bereich der Elternhäuser. Diese Grenze muss sehr bewusst sein.
ZEIT ONLINE: Würden Sie eine Impfpflicht für Lehrer und Lehrerinnen unterstützen?
Schieren: Nein, ich halte es für richtig, dass es keine Impfpflicht gibt. Impfen muss eine individuelle Entscheidung bleiben. Es braucht allerdings ein, je nach Zuspitzung der Lage, gutes Testsystem und weitere Maßnahmen. Meines Wissens ist die Impfquote bei Waldorflehrerinnen und -lehrern sehr hoch und konnte recht früh umgesetzt werden. Jetzt eine Impfpflicht für sie einzuführen, würde wiederum einen unnötigen Nebenschauplatz der Auseinandersetzung eröffnen.
Interview für Zeit-Online von Parvin Sadigh am 24. November 2021
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